Vorwort
Weihnachten steht vor der Tür! Und was gehört zu Weihnachten dazu? Na klar, Märchen! Zusammen mit den Teilnehmenden von WoLiBamiKi („Work Life Balance mit Kind“) und BKQZ (Baukastensystem Qualifizierungszentrum) ging es auf den Weihnachtsmarkt in Gera. Hier ist beim gemütlichen Bummel direkt ein wenig festliche Stimmung aufgekommen. Besonders positiv aufgefallen sind die verschiedenen künstlerischen Aufbauten der bekanntesten Märchen, die es über den ganzen Weihnachtsmarkt jedes Jahr zu bestaunen gibt. Hier wurde kein Klassiker ausgelassen und für jeden war ein Highlight der vergangenen Kindertage dabei. Wer schon ein wenig vergesslich war, konnte sich mit Hilfe der dargebotenen Schlüsselszenen daran erinnern, worum es in dem Märchen ging. Wieder in warmen Räumen zurück wurde der kleine Exkurs rezipiert und überlegt, wie man Märchen einen modernen Anstrich verpassen kann. Wir möchten den/die Leser*innen einladen, unsere altbekannten Geschichten noch einmal ganz neu zu erleben. Als Anfang soll der gefährliche Weg eines kleinen Mädchens dienen, welches sich zur Großmutter aufmacht, um ihr Essen und Trinken zu bringen. Und dabei wurde sie gewarnt, nicht vom Weg abzukommen.
Rotcappy
Der Wolf machts nicht besser, aber farbiger mit Feingefühl!
Es war einmal ein Mädchen, das bekam einst von ihrer alten und kranken Großmutter eine rote Cappy geschenkt. Weil sie diese jeden Tag trug, nannte man sie von jeher nur noch Rotcappy. Eines Tages wollte Rotcappy ihrer Großmutter eine Freude machen und ihr vormittags etwas Kuchen und das Geld vorbeibringen, dass sie sich von Ihr geliehen hatte. Ihr Betreuer im BZ erlaubte es ihr, da er wusste, wie wichtig ihre Oma für Rotcappy war. Er mahnte aber, dass sie nicht über den Weihnachtsmarkt gehen sollte. Die Großmutter wohnte am anderen Ende der Stadt und so machte sich Rotcappy schnell auf die Socken.
Sie war nur ein paar Straßen weit gelaufen, da kamen schon die ersten Hütten vom Geraer Weihnachtsmarktes in Sicht. Der Duft aus der Ferne war fantastisch. Wie magisch angezogen, schlenderte das Mädchen zu dem festlich geschmückten Platz. Dort angekommen lief Sie schnurstracks zu ihrem Lieblingsstand.
„Na, Rotkäppchen? Schön dich nach all der Zeit mit Corona mal wieder zu sehen! Ich habe dieses Jahr ganz besondere Leckereien da! Und wie geht es eigentlich deiner Großmutter?“ Er brabbelte wie ein Wasserfall, gab seinem Sohn noch schnell einen Klapps auf die Hand, als dieser versuchte, sich ein paar gebrannte Mandeln zu stibitzen und begann Rotcappy alle angesagten Süßigkeiten zu zeigen. „Nie darf ich mal Süßes vom Stand haben, das ist bodenlos gemein!“, schrie sein Sohn, noch bevor er wütend Richtung Heinrichstraße den Stand verlies.
Einige Zeit später verließ auch Rotcappy überglücklich und mit einem Beutel voll Süßigkeiten aller Geschmacksrichtungen den Stand Richtung Straßenbahn-Haltestelle Heinrichstraße. Alles Geld von Rotcappy war zwar jetzt weg, aber Rotcappy beruhigte sich: „Oma brauch‘ das Geld bestimmt nicht diese Woche, das hat die doch bestimmt eh vergessen.“ Unbeirrt stieg sie in die Straßenbahn Richtung Lusan und verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an das Geld. Der Junge vom Standbesitzer aber war schon zur Großmutter vorgefahren und klingelte bereits laut und ungeduldig an der Tür. Als die Großmutter an der Sprechanlage fragte, was denn dieser unnötige Krach sollte, verstellte der Junge seine Stimme zu jener von Rotcappy und die Großmutter lies ein. Dann schlürfte sie unbekümmert zurück ins Wohnzimmer auf ihren Lieblingssessel. Der Junge kam leise in die Wohnung, schnappte sich vom Küchentisch Geschenkschleifen und Klebeband und schlich sich an die Großmutter heran. Er überwältigte die alte Dame mühelos, fesselte sie und sperrte sie dann ins Schlafzimmer. Dann nahm er sich von der Garderobe Mantel und Mütze, verkleide sich als Großmutter und sprang selbst in den Sessel. Kurze Zeit später war auch Rotcappy angekommen.
Zwar ein bisschen verwundert, warum die Wohnungstür offen war, kam Rotcappy herein. Sie schaute flüchtig zur Großmutter, die mit Mantel und Mütze im Sessel saß und fragte.
„Na wo willst du denn noch hin Omi?“ „Na zum Bingo ins Pflegeheim später!“, antwortete der Junge mit rauer Stimme, fast genau wie die Stimme der Großmutter.
„Was ist hier eigentlich für eine Unordnung, war die Pflegehilfe heute schon da?“ – „Nein, die ist heute krank glaube ich.“
„Und warum liegt hier überall Geschenkband rum, wozu hast du das denn schon gebraucht?“ – „Na damit ich dich besser fesseln kann natürlich“, rief der Junge mit normaler Stimme, sprang vom Sessel auf und stürzte sich auf Rotcappy und ihren Süßigkeitenbeutel. Völlig überrascht zankten sie sich kurz, aber Rotcappy hatte keine Chance. So wurde auch sie gefesselt und zur Großmutter ins Schlafzimmer gesperrt. Dann machte sich der Junge über die Süßigkeiten her.
Im Schlafzimmer schüttelte die Großmutter nur den Kopf und sagte abwesend: „Mädel, du bist auch zu nichts zu gebrauchen, ehrlich mal.“ „Sorry, Omi…“, antwortete Rotcappy nur resigniert und starrte aus dem Fenster. Kurze Zeit später kam der Nachbar Werner durch den Hausflur. Er bemerkte die offene Wohnungstür. „Das passt ja ganz und gar nicht zu der alten Frau“, dachte er sich und trat ein. Drinnen fand der Nachbar den Jungen in Omaverkleidung auf dem Sessel schlafen. Umringt von Bonbonpapier und anderen Verpackungen, reimte sich Nachbar Werner schnell zusammen, was passiert war. „Das ist ja wie im Märchen hier!“, lachte er. Er befreite Rotcappy und die Großmutter aus dem Schlafzimmer und zusammen weckten sie den Jungen aus seinem Verdauungsschlaf. Dann gab es für ihn eine Standpauke, die sich sehen lassen konnte und einen fiesen Anruf bei seinem Vater.
„Der Bengel soll mir nur nach Hause kommen, das sag ich seiner Mutter, die wird …“, hörte Rotcappy nur aus der Ferne noch den Vater durch das Telefon wettern. Sie wollte sich gerade durch die Wohnungstür stehlen, da hörte sie wie die Oma ruft: „Rotcappy, wo ist eigentlich das Geld, dass ich dir geliehen habe? Ich wollte heute noch zum Bingo!!“ „Nächstes mal. Tschüss, Oma, Tschüüüss!“, sagte Rotcappy nur eilig und das Herz rutschte ihr in die Hose. „Was für ein Freak“, dachte sie sich nur und schwor sich beim nächsten Mal auf ihren Betreuer vom BZ zu hören. Zum Weihnachtsmarkt ging sie vorerst nicht wieder.